Cover
Titel
Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich 1855–2005


Autor(en)
Gugerli, David; Patrick Kupper, Daniel Speich
Erschienen
Zürich 2005: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sebastian Brändli

Festschriften sind für die historische Zunft zwar häufig wichtige Quellen, als Kategorie historischen Schaffens haben Festschriften und Jubiläumsbände aber in der Regel einen schlechten Ruf. Das liegt zum einen am Erkenntnisinteresse selber: sie stellen die zu feiernde Institution auftragsgemäss in den Mittelpunkt, was sich aus sachlichen Gründen vielleicht gar nicht rechtfertigt (daher rührt wohl auch die häufig anzutreffende hagiographische Neigung). Zum andern entsteht aus dem eingeschränkten Erkenntnisinteresse auch eine eingeschränkte Methode, in der Regel wird ein überholter institutionengeschichtlicher Ansatz verfolgt. Seit dem Siegeszug der Sozial- und Kulturgeschichte haben sich Festschriften aber gewandelt. Konkret ist es häufiger geworden, dass aus Anlass eines Jubiläums eine ernstzunehmende historische Untersuchung vorgelegt wird. Das ist beim vorzustellenden Werk der Fall.

Wenn Institutionengeschichte allein kein Paradigma historischer Forschung mehr sein kann, was soll, was muss – methodisch – dazukommen? Einbettung ist das Zauberwort. Es müssen die kontextuellen Bedingungen ins Blickfeld kommen, möglicherweise vergleichend auch andere Institutionen mit ihren Entwicklungen. Auch muss versucht werden, die Entwicklung der Institution in ihren eigenen Wertund Zielvorstellungen darzustellen. Vorliegendes Werk kommt diesen neuen Bedürfnissen einer erweiterten Institutionengeschichte in hohem Masse entgegen. Einbettung wird in vielschichtiger Weise geleistet: ins wissenschaftliche Umfeld, indem einzelne fachliche oder interdisziplinäre Stossrichtungen identifiziert und in ihrer interaktiven Wirkung auf die ETH dargestellt werden; die soziale und wirtschaftliche Umwelt, indem nicht nur die jeweiligen Akteure, sondern auch aussenstehende Stakeholders mit ihren Zielsetzungen und Interventionen zur Sprache kommen; die politischen Rahmensetzungen, indem insbesondere die Wissenschaftspolitik des Bundes, die im Polytechnikum bzw. der ETH ein frühes und ideales Instrument gefunden hatte, in Bezug auf die institutionelle Entwicklung gezeichnet wird. Schliesslich werden die Wert- und Zielvorstellungen der ETH in vielen historischen Konstellationen freigelegt: Wichtigste Metapher ist und bleibt die Zukunftsgestaltung, woher auch das Buch seinen Titel nimmt: Zukunftsmaschine. Der Begriff ist damit nicht einfach Referenz ans Jubiläumsmotto («wellcome tomorrow! »), sondern eben auch sehr historisch gemeint, indem wissenschaftliche Arbeit generell als spezielle Art der Zukunftsbewältigung verstanden wird. In diesem Sinne ist die ETH über 150 Jahre Zukunftsmaschine gewesen und soll es – dies als Aufruf für die Jetzt-Generation – auch heute bleiben.

Wer die Aufgabe erhält, die letzten 150 Jahre zu überblicken und auf die Lebenszeit der ETH zurückzuschauen, hat verschiedene Orientierungsmöglichkeiten: eine Option ist die wissenschaftliche Einbettung, also die Orientierung an den 150 Jahren Wissenschaftsentwicklung. Diese Option wurde bisher in vielen Festschriften stark betont. Wie schwierig eine repräsentative Auswahl in dieser Hinsicht aber ist, lässt sich am Beispiel der Mathematik erahnen. Die exakteste aller exakten Wissenschaften wird in ihrer heutigen Fülle nur schon fachintern von keinem Fachvertreter mehr übersehen. Unermesslich und unbeschreiblich ist die Welt von Adam Riese geworden: Jährlich werden etwa 200 000 Seiten an neuen mathematischen Resultaten publiziert, und das gesamte Volumen an relevanter mathematischer Literatur wird auf 50 Millionen Seiten geschätzt. Von den über 5000 mathematischen Teilgebieten überblickt heute auch ein Hochschulmathematiker nur bestenfalls ein Dutzend. Welche Überforderung an den Historiker, eine Einbettung einer Institution in die wissenschaftliche Entwicklung der vertretenen Fachgebiete zu leisten! – Natürlich könnte man auch eine Architekturgeschichte im Sinne der räumlichen Entwicklung, also eine Stadtgeschichte, schreiben oder eine Geschichte des Verhältnisses der ETH zu ihrem Träger, dem Bund, also eine Geschichte der ETH im Rahmen der schweizerischen Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Das Buch legt sich nicht auf eine bestimmte Fragestellung fest, d.h. es kommen viele der genannten Aspekte zur Sprache. Eine prominente Rolle in der aufgezeichneten Geschichte spielt aber in der Tat die Verbindung mit der tragenden Nation.

Besonders interessant sind die Ausführungen zur Einbettung der ETHGeschichte in die Bildungs- und Wissenschaftspolitik des Bundes. Dies nur schon deshalb, weil das Polytechnikum bzw. die ETH über lange Jahrzehnte – jedenfalls bis zur Gründung des Schweizerischen Nationalfonds 1952 und des Erlasses des Bundesgesetzes über die Hochschulförderung 1968 – die einzige nationale Bildungs- und Wissenschaftsinstitution war. ETH-Politik war unter diesen Bedingungen gleichbedeutend mit nationaler Wissenschaftspolitik, und erst die Schaffung neuer Instrumente, insbesondere die Subventionierung der kantonalen Universitäten seit den 1960er Jahren, erweiterte die nationale Wissenschaftspolitik über den ETH-Bereich hinaus. – Schon bezüglich der Gründungszeit wird gegenüber der bisherigen Historiographie eine Neubewertung vorgenommen. Bisher wurde die Gründung der ETH vor allem als vorzüglicher und unerwarteter Ersatz für die politisch bekämpfte und deshalb nicht realisierte eidgenössische Universität interpretiert. Diese Einschätzung wird nicht bestritten, aber erweitert durch die Überwindung des generellen konstitutiven Dilemmas des soeben eingesetzten Bundesstaates. Dieser wurde bekanntlich politisch schwach konzipiert und musste sich seine Rolle erst schaffen. Einen guten Leistungsausweis hätte der Bund mit einer erfolgreichen Infrastrukturpolitik erhalten, doch das zentrale Infrastrukturproblem der Gründerzeit, die Eisenbahnfrage, wurde zugunsten des Privatbahnbaus gelöst und damit dem Bund als mögliches Politikfeld weitgehend entzogen. Damit wurde die Gründung und Realisierung des Polytechnikums zum Ausdruck des Willens, dem Bund überhaupt eine politische Rolle zu ermöglichen. Das Polytechnikum entpuppte sich als ideale Lückenbüsserin – eben nicht nur für die gescheiterte eidgenössische Universität, sondern nach dem Scheitern des staatlichen Eisenbahnbaus auch generell für die Fähigkeit des jungen Bundesstaates, Infrastrukturpolitik zu betreiben.

Ein weiteres eindrückliches Thema für die Geschichte der Beziehung zum tragenden Bund wurde durch den Einbezug der bildungspolitischen Aspekte ebenfalls neu geschrieben: Es geht um den Promotionsstreit. Das Polytechnikum wurde als Ingenieurschule mit Betonung der Ausbildung, ohne eigentlichen Forschungsauftrag gegründet. Die Studenten waren Schüler, die mit einem beruflich qualifizierenden Diplom abschlossen. Die Entwicklung hin zur naturwissenschaftlichtechnischen Universität wurde zwar bereits früh, d.h. gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitet. Doch die politischen Widerstände waren gross, es wehrten sich nicht nur die akademisch gebildeten Politiker gegen die Gleichstellung der polytechnischen Institution mit den akademischen Universitäten. Ein Edikt des deutschen Kaisers brachte 1898 den Stein dann endgültig ins Rollen, indem die Schule zu Berlin zur Technischen Universität erhoben und mit dem Promotionsrecht beglückt wurde. Das Buch zeigt sehr schön, wie sich die Bundespolitik auch in dieser Situation nochmals Zeit liess – nicht zuletzt, weil der damalige Präsident des Schulrates selber die Überführung nicht unterstützte. 1908 indessen war es so weit; die ETH startete damit etwas verspätet ins 20. Jahrhundert, was ihrem wissenschaftlichen Siegeszug jedoch nichts anhaben konnte.

Eine letzte Phase in der Geschichte der ETH im Rahmen eidgenössischer Bildungs- und Wissenschaftspolitik betrifft die letzten 50 Jahre, wo nicht nur der Eintritt der «Komponente Student» im Zusammenhang mit dem Referendum übers ETH-Gesetz 1969 dargestellt wird, sondern auch die vielfältigen interdependenten Beziehungen des Trägers zu seiner Wissenschaftsinstitution zur Sprache kommen. Dabei geht es um vielfältige Innovations-, Kristallisations-, Reform- und Unterstützungsinitiativen der Politik zu Handen der ETH-Institutionen, die sich teils als ausformulierte Rahmenbedingungen, teils auch als freie Anregungen verstehen liessen. Diese politischen Vorgaben, Vorlagen und Vorschläge betrafen auch inhaltliche Problemstellungen, prominent in den Wissensbereichen Informatik, Umweltwissenschaften und humanities (Stichwort: Collegium Helveticum). Daneben legte der Gesetzgeber – vor allem mit den ETH-Gesetzen 1991 und 2004 – neue Governance-Strukturen fest, die Führung und Autonomie garantieren sollten. Eine wichtige Interventionsschiene der Politik folgte den Spannungsfeldern Forschungsfreiheit versus Programmforschung sowie Internationalisierung und Rückbesinnung auf national needs. Der letzte Abschnitt des Buches führt so direkt in die derzeit anstehenden laufenden Geschäfte über, kommt damit in der Gegenwart an und hilft in der Tat mit, unsere Zukunft vorzubereiten. – Die «Zukunftsmaschine » ist ein ausgezeichnetes Werk der Wissens-, Wissenschafts- und Hoch schulgeschichte, gut strukturiert, kurzweilig und facettenreich geschrieben, und schön produziert.

Zitierweise:
Sebastian Brändli: Rezension zu: David Gugerli, Patrick Kupper und Daniel Speich: Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich 1855–2005. Zürich, Chronos, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 225-228.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 225-228.

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